Auswirkungen des Gasengpasses auf bestehende Lieferketten

Seit Montag, den 11.07.2022, stoppt Russland seine Gaslieferungen über Nord Stream 1 nach Deutschland – vorübergehend. Hintergrund ist eine angekündigte Wartung der Gaspipeline. Doch seitens des Bundeswirtschaftsministeriums, der Bundesnetzagentur sowie den öffentlichen und privaten Medien werden Warnungen lauter, dass Russland die Wartungsarbeiten als Vorwand vorschieben könnte, um seine Gaslieferungen nach Deutschland dauerhaft einzustellen.

Die Auswirkungen einer beschränkten Energieversorgung können weitreichende Folgen auf die Vertragsbeziehungen zwischen einer Vielzahl von Unternehmen haben und somit auch bestehende Lieferketten empfindlich stören.

Die mögliche Einschränkung der Gasversorgung kann je nach Einzelfall etwa dazu führen, dass
 

  • Unternehmen von einzelnen Leistungspflichten aus ihren Vertragsverhältnissen infolge von Unmöglichkeit befreit werden (I.),
     
  • für Unternehmen ein Rücktritts- bzw. Kündigungsrecht von ihren Verträgen entsteht (II.),
     
  • vertragliche Regelungen im Falle Höherer Gewalt / Force Majeure eingreifen (III.), oder
     
  • eine Störung der Geschäftsgrundlage das jeweils betroffene Unternehmen zu einer Vertragsanpassung bzw. Kündigung berechtigt (IV.).


Dabei sind die konkreten Rechtsfolgen einer so bedingten Leistungsstörung stets im jeweiligen Einzelfall und für jedes einzelne Vertragsverhältnis innerhalb der Lieferkette getrennt zu beurteilen:

Ein Hersteller für Turbinenteile kann seinen Kunden, der Turbinen herstellt, nicht mehr beliefern, weil sein eigener Lieferant kein beschichtetes Rohmaterial mehr liefern kann. Zur Lieferung des beschichteten Rohmaterials wäre die Nutzung einer gasbetriebenen Anlage erforderlich. Der Gaslieferengpass und die daraus folgenden Störungen können sich auf das Vertragsverhältnis zwischen dem Lieferanten und dem Hersteller für Turbinenteile und auf die Vertragsbeziehung zwischen dem Hersteller für Turbinenteile und dessen Kunden je nach Einzelfall auf unterschiedliche Weise auswirken.

Der folgende Beitrag soll einen Überblick über die möglichen Auswirkungen auf die Vertragsbeziehungen verschaffen und erste Hinweise dafür bieten, wie betroffene Unternehmen im Allgemeinen reagieren können.

 

I. Befreiung von der Leistungspflicht infolge von Unmöglichkeit
Auftretende Gaslieferengpässe und hieraus resultierende Störungen in den Lieferketten könnten betroffene Unternehmen von ihren Leistungspflichten gegenüber Vertragspartnern – zumindest vorübergehend und unter Umständen sogar dauerhaft – befreien.

1. Unmöglichkeit
Nach § 275 Abs. 1 BGB ist der Anspruch auf Leistung ausgeschlossen, soweit diese für den Schuldner oder für jedermann unmöglich ist. Unmöglichkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn die Erbringung des geschuldeten Leistungserfolges dauerhaft ausgeschlossen ist.

Eine Unmöglichkeit könnte danach insbesondere für Lieferpflichten eines Unternehmens angenommen werden, wenn es diesem infolge fehlender Energieversorgung dauerhaft nicht mehr möglich ist, die geschuldeten Materialien herzustellen und zu liefern. Das wäre im obigen Beispielsfall gegeben, wenn der Lieferant für beschichtetes Rohmaterial dieses mehr herstellen und liefern kann, weil seine Fertigungsanlagen mangels Gases nicht mehr betrieben werden können.

Dabei kann auch ein nur vorübergehendes Leistungshindernis einer dauerhaften Unmöglichkeit gleichstehen, wenn und soweit die Erreichung des jeweiligen Vertragszwecks gefährdet wird. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn das Leistungsinteresse mit Einhaltung des Lieferdatums steht und fällt. Häufig trifft dies auf Geschäfte mit fixen Lieferterminen sowie just-in-time Geschäfte zu.

Auch der Hersteller der Turbinenteile kann u.U. gegenüber seinem Kunden, dem Hersteller der Turbinen von seinen Leistungspflichten infolge von Unmöglichkeit befreit sein. Dies etwa, wenn er beschichtete Rohmaterialien, die zur Herstellung seiner Produkte benötigt werden, gar nicht mehr am Markt beschaffen kann, weil die Fertigungsanlagen aller Zulieferer stillstehen.

Eine bloße Leistungserschwerung für den Hersteller der Turbinenteile wäre für eine leistungsbefreiende Unmöglichkeit nach § 275 Abs. 1 BGB grundsätzlich nicht ausreichend. Eine Unmöglichkeit liegt nicht bereits dann vor, wenn nur sein einzelner Lieferant die nötigen Rohmaterialien nicht liefern kann, andere Lieferanten dagegen schon.

2. Rechtsfolgen
Die Rechtsfolgen sind für jedes Vertragsverhältnis gesondert zu beurteilen.

a. Verhältnis zwischen dem Lieferanten und dem Hersteller der Turbinenteile
Im Verhältnis zwischen dem Lieferanten und dem Hersteller der Turbinenteile ergibt sich aus einer Unmöglichkeit der Leistung des Lieferanten folgendes:

Soweit der Lieferant von seinen Leistungspflichten gegenüber dem Hersteller der Turbinenteile infolge von Unmöglichkeit befreit wird, entfällt der auf die Lieferung der Materialien gerichtete Primäranspruch Herstellers für Turbinenteile.

Folglich wird der Hersteller der Turbinenteile von seiner Gegenleistungspflicht gegenüber dem Zulieferer, der Zahlung des Kaufpreises, grundsätzlich befreit.

Ist nur ein Teil der Leistung des Lieferanten unmöglich geworden, bleibt der übrige Vertragsteil grundsätzlich unberührt. Gegebenenfalls kann der Hersteller für Turbinenteile aber vom gesamten Vertrag zurücktreten bzw. diesen kündigen, wenn er an der noch möglichen Teilleistung kein Interesse mehr hat.

Wenn und soweit der Lieferant der Rohmaterialien die zu seiner Leistungsbefreiung führende Unmöglichkeit zu vertreten hat, können Sekundäransprüche in Form des Schadensersatzes bestehen. Hiervon ist bei einem von dem Lieferanten nicht steuerbaren Gasengpass allerdings  erst einmal nicht auszugehen.

In Betracht kämen allenfalls und je nach Einzelfall Schadensersatzansprüche aus vertraglicher Pflichtverletzung, wenn etwa der Lieferant vertraglich vereinbarte und ihm zumutbare Vorsorgemaßnahmen nicht ergriffen hat, die einer Unmöglichkeit infolge eines Gaslieferengpasses gerade vorbeugen sollten.

Hinweis:

Zudem sollten alle Unternehmen ihre potenziell betroffenen Vertragspartner in der Lieferkette auf mögliche Engpässe in der Energieversorgung hinweisen und auffordern, vertraglich vereinbarte bzw. zumutbare Vorsorgemaßnahmen zu ergreifen, damit eine Unmöglichkeit weitestgehend abgewendet werden kann.

b. Verhältnis des Herstellers für Turbinenteile zum Hersteller der Turbinen
Im Verhältnis des Herstellers für Turbinenteile zu seinem Kunden ergibt sich aus der unmöglichen Lieferung des Rohmaterial-Lieferanten folgendes:

aa. Lieferung unmöglich
Wenn und soweit der Hersteller seine Turbinenteile gar nicht mehr herstellen kann, weil die hierzu notwendigen Rohmaterialien am Markt schlichtweg gar nicht mehr angeboten werden, wird er von seinen Lieferungspflichten gegenüber seinem Kunden insoweit befreit.

Er hat dann keinen Anspruch mehr auf die vertragliche Kaufpreiszahlung.

Der Hersteller für Turbinenteile dürfte seinem Kunden gegenüber grundsätzlich auch nicht zum Schadensersatz verpflichtet sein, da er die Unmöglichkeit seiner Leistungspflichten nicht zu vertreten hat.

In Betracht kämen allenfalls und je nach Einzelfall Schadensersatzansprüche aus vertraglicher Pflichtverletzung, wenn der Hersteller etwa vertraglich vereinbarte und ihm zumutbare Vorsorgemaßnahmen nicht ergriffen hat, die einer Unmöglichkeit infolge eines Gaslieferengpasses gerade vorbeugen sollten.

Hinweis:

Jedes Unternehmen sollte einen Blick in die eigenen Verträge werfen und prüfen, welche Vorsorgemaßnahmen es selbst zu ergreifen hat. Insoweit empfiehlt es sich, vertraglich vereinbarte sowie zumutbare Vorsorgemaßnahmen zu ergreifen und zu dokumentieren.

bb. Lieferung nicht unmöglich
Wenn und soweit die Rohmaterialien zur Herstellung der Turbinenteile nur von einem konkreten Lieferanten nicht mehr hergestellt werden können, etwa weil nur seine Energieversorgung zum Erliegen kam, die Rohmaterialien am übrigen Markt aber weiterhin angeboten werden, liegt eine Unmöglichkeit grundsätzlich nicht vor. Die Lieferungspflicht bleibt dann bestehen.

Exkurs:

In Betracht käme insoweit allenfalls noch ein Leistungsverweigerungsrecht nach § 275 Abs. 2 BGB. Der Schuldner kann die Leistung danach verweigern, soweit diese einen Aufwand erfordert, der unter Beachtung des Inhalts des Schuldverhältnisses und der Gebote von Treu und Glauben in einem groben Missverhältnis zu dem Leistungsinteresse des Gläubigers steht. Bei der Bestimmung der dem Schuldner zuzumutenden Anstrengungen ist auch zu berücksichtigen, ob der Schuldner das Leistungshindernis zu vertreten hat.

Diese Voraussetzungen dürften in der vorliegenden Situation nur schwerlich zu erfüllen sein. Vorausgesetzt ist erstens eine grobe Unverhältnismäßigkeit, die ein unmöglichkeitsähnliches Ausmaß erreicht haben muss. Die Unverhältnismäßigkeit muss so drastisch sein, dass das Verlangen nach Naturalerfüllung als sinnlos und rechtsmissbräuchlich erscheint. Zudem werden Fälle, in denen das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung gestört wird, nicht von § 275 Abs. 2 BGB erfasst. Die Frage also, ob sich die Erbringung der Leistung für den Schuldner im Hinblick auf die damit zu verdienende Gegenleistung „lohnt“ werden vielmehr unter dem rechtlichen Gesichtspunkt der Störung der Geschäftsgrundlage nach § 313 BGB (IV.) erfasst. In solchen Fällen soll zur Aufrechterhaltung des Vertrags primär eine Vertragsanpassung erfolgen und nicht ein einseitiges Leistungsverweigerungsrecht begründet werden.

Für solche „Leistungserschwerungen“ sieht das Gesetz andere Mechanismen vor, wie mit den bestehenbleibenden Lieferpflichten je nach Einzelfall umzugehen ist. In Betracht kommen Rücktritts- bzw. Kündigungsrechte, vertragliche Rechte infolge Höherer Gewalt / Force Majeure sowie Anpassungsansprüche und Rücktritts- bzw. Kündigungsrechte infolge des Wegfalls von Geschäftsgrundlagen (II. – IV.).

 

II. Rücktritts- bzw. Kündigungsrecht infolge von Gaslieferengpässen
Wenn Lieferpflichten nicht bereits wegen Unmöglichkeit suspendiert sind, können auftretende Gaslieferengpässe u.U. Rücktritts- bzw. Kündigungsrechte begründen. Das ist wiederum für jede einzelne Vertragsbeziehung gesondert zu prüfen und gilt für alle Verträge innerhalb der Lieferkette. In Betracht kommen je nach Einzelfall vertragliche wie auch gesetzliche Rücktritts- bzw. Kündigungsrechte.

1. Gesetzliches Kündigungsrecht aus wichtigem Grund
Dauerschuldverhältnisse kann jeder Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gem. § 314 Abs. 1 BGB kündigen. Voraussetzung eines gesetzlichen Kündigungsrechts ist das Vorliegen eines wichtigen Grundes. Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn dem kündigenden Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses bis zur vereinbarten Beendigung oder bis zum Ablauf einer Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann.

Hieran sind sehr hohe Anforderungen zu stellen. Diese können zum Beispiel vorliegen, wenn die Leistungsstörung nicht nur kurzfristig ist, sondern voraussichtlich lange andauern wird und existentielle Gefahren haben kann. Ist absehbar, dass ein Lieferant auch nach Beendigung der Krise kaum wieder liefern können wird, etwa weil er die Krise wirtschaftlich "nicht durchsteht", so ist dem Vertragspartner ein Festhalten am Vertrag u.U. nicht zuzumuten.

2. Vertragliches Kündigungsrecht
In Betracht kommen auch vertragliche Rücktritts- bzw. Kündigungsrechte. Vertraglich können dabei Rücktritts- bzw. Kündigungsrechte vereinbart sein, die geringere Voraussetzungen für eine Kündigung statuieren als das Gesetz.

Beispielsweise kommt eine Vertragsbeendigung bei wirksamen Selbstbelieferungsvorbehalten in Betracht. Eine Klausel, wonach der Verkäufer selbst rechtzeitig mit den für seine Lieferung benötigten Vor-/Rohmaterialien in ausreichender Menge beliefert wird (sog. kongruentes Deckungsgeschäft), kann den Verkäufer im Fall von eintretenden Lieferengpässen bei seinen benötigten Materialien u. U. dazu berechtigen, vom Vertrag zurückzutreten. Der wirksame Selbstbelieferungsvorbehalt räumt dem Verkäufer dabei keinen Freibrief ein, sondern soll ihn im Wesentlichen vor der Haftung für unverschuldete Unmöglichkeit der Lieferung seines Lieferanten bei Gattungsware schützen. Der Selbstbelieferungsvorbehalt ist auf zukünftige, noch ganz ungewisse und unvorhersehbare Gefahren beschränkt und befreit von einer Haftung wegen Lieferverzugs oder Lieferausfalls nur, wenn sich der Verkäufer die zur eigenen Produktion benötigte Ware an Vor-/Rohmaterial trotz zumutbarer Anstrengungen nicht besorgen kann.

Hinweis: 

Empfehlenswert ist insofern, sich einen Überblick über die jeweiligen vertraglichen Regelungen zu verschaffen. Wenn darin ein Selbstbelieferungsvorbehalt enthalten ist, sollte überprüft werden, ob dieser wirksam vereinbart wurde und welche Voraussetzungen für seine Ausübung vorliegen müssen. Dabei gilt es zu beachten, dass ein einmal erklärter Rücktritt bzw. eine einmal erklärte Kündigung einseitig nicht mehr rückgängig gemacht werden können. In jedem Fall sollte eine unverzügliche Information des Kunden über die (konkret drohende) Nichtverfügbarkeit erfolgen, um diesem eine Schadensminderung zu ermöglichen und etwaige Informationspflichten aus einem bestehenden Vertrag zu erfüllen.

 

III. Vertragsanpassung oder Beendigung infolge Höherer Gewalt / Force Majure
Je nach Einzelfall kann in den Verträgen eine bestimmte Rechtsfolge (z.B. Vertragsanpassung, Aussetzung der Lieferpflichten, Kündigungsrecht) bei Leistungsstörungen infolge Höherer Gewalt / Force Majeure vereinbart sein.

1. Höhere Gewalt / Force Majeure
In der Rechtsprechung gilt als Force Majeure (Höhere Gewalt) ein betriebsfremdes, von außen durch Naturkräfte oder durch Handlungen Dritter herbeigeführtes Ereignis, das nach menschlicher Einsicht und Erfahrung nahezu unvorhersehbar ist und auch durch den Einsatz äußerster Sorgfalt nicht verhindert werden kann. Entscheidende Kriterien sind hierbei Unvorhersehbarkeit, Unvermeidbarkeit und Außergewöhnlichkeit des Ereignisses.

So kann die Einstellung der Gaslieferungen durch einen Drittstaat u.E. als unvorhersehbares, außergewöhnliches und nicht abwendbares Ereignis, mithin als höhere Gewalt eingestuft werden. '

2. Rechtsfolge
Welche Rechtfolge an das Eintreten von Leistungsstörungen infolge höherer Gewalt geknüpft sind, hängt in aller erster Linie von den vertraglichen Regelungen ab und muss daher im Einzelfall geprüft werden.

Regelmäßig ist die Suspendierung von der vertraglichen Leistungspflicht für die Dauer dieses Ereignisses, der Ausschluss von Schadensersatzansprüchen, ein außerordentliches Kündigungsrecht oder ein Recht auf Anpassung des Vertrages vorgesehen. Eine Vertragskündigung oder -anpassung kommt üblicherweise erst dann in Betracht, wenn ein definierter Zeitraum des Andauerns des Ereignisses Höherer Gewalt verstrichen ist.

Es kommt damit auf die jeweiligen vertraglichen Regelungen an, ob und welche Folgen sich hieraus ergeben.

Hinweis:

Auch insoweit empfiehlt es sich, einen Blick in die Vertragsunterlagen zu werfen. Oftmals wird hier genauer definiert, welche Situationen als Höhere Gewalt / Force Majeure gelten und welche nicht. Oftmals sehen Verträge für die erfassten Fälle auch gegenseitige Informationspflichten der Vertragspartner vor, nach denen sich diese unverzüglich über sich abzeichnende Leistungsstörungen infolge Höherer Gewalt zu informieren haben. Regelmäßig werden diese Informationspflichten mit Mitwirkungspflichten zur Minimierung der zu erwartenden Störungen verbunden.

 

IV. Wegfall der Geschäftsgrundlage
Wo vertragliche Rücktritts- bzw. Kündigungsrechte nicht bestehen, ein wichtiger Kündigungsgrund (noch) nicht vorliegt, kommt ggf. eine Vertragsanpassung oder hilfsweise ein Rücktritt bzw. eine Kündigung infolge des Wegfalls der Geschäftsgrundlage in Betracht.

1. Regelungsinhalt des § 313 BGB
Nach Sinn und Zweck soll den Vertragsparteien gem. § 313 Abs. 1 BGB eine vertragliche Korrektur der Fehlvorstellungen über bereits bestehende vertragswesentliche Umstände oder künftige Entwicklungen ermöglicht werden. Es handelt sich hierbei um eine gesetzliche Ausformung des Gedankens von Treu und Glauben (§ 242 BGB), da die Vertragsparteien vielfach vom Vorliegen oder Eintreten bestimmter Umstände ausgehen, ohne dies zum Gegenstand einer ausdrücklichen oder wenigstens stillschweigenden Vereinbarung oder Bedingung zu machen. Die Vorschrift des § 313 BGB ist dabei gegenüber anderen gesetzlichen Regelungen subsidiär und kommt nicht zur Anwendung, soweit die konkrete vertragliche Vereinbarung für bestimmte Umstände Regelungen enthält.

Die Vorschrift des § 313 BGB ist Billigkeitsrecht und wurde geschaffen, um das „Spannungsverhältnis von Vertragstreue und Notwendigkeit der Auflösung wegen gravierender Störungen“ zu lösen. Die Rechtsprechung ist bei der Anwendung dieser Billigkeitsnorm äußerst zurückhaltend, es sind hohe Anforderungen zu stellen, deren Vorliegen im Einzelfall genausten geprüft werden muss.


2. Geschäftsgrundlage
Die Geschäftsgrundlage sind die nicht zum eigentlichen Vertragsinhalt gewordenen, bei Vertragsschluss aber zu Tage getretenen gemeinsamen Vorstellungen der Vertragsparteien oder die dem anderen Teil erkennbaren und von ihm nicht beanstandeten Vorstellungen der anderen Partei von dem Vorhandensein oder dem künftigen Eintritt bestimmter Umstände, auf denen der Geschäftswille der Parteien aufbaut. Grundlage des Vertrags können subjektive oder objektive Umstände sein, ferner wird zwischen der großen Geschäftsgrundlage (betroffen bei Krieg, erheblicher Währungsverfall, Natur- und Umweltkatastrophen) und der kleinen Geschäftsgrundlage (begrenztere Einwirkungen) unterschieden.

Zur COVID-19-Pandemie und den damit verbundenen massiven Auswirkungen auf das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben hat der BGH bereits entschieden, dass die „sogenannte große Geschäftsgrundlage betroffen sei. Darunter versteht man die Erwartung der vertragschließenden Parteien, dass sich die grundlegenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen eines Vertrags nicht ändern und die Sozialexistenz nicht erschüttert werden.

Erkennbare Grundlage eines Liefervertrags ist es jedenfalls, dass Rohmaterialien auch künftig verfügbar sind und nur den erwartbaren Preisschwankungen unterliegen. Diese Vorstellung wurde z.B. durch die Auswirkungen der Pandemie nicht nur schwerwiegend verändert, sondern für bestimmte Materialien schlichtweg aufgehoben.

Entsprechend spricht einiges dafür, dass die Rechtsprechung eine Störung der großen Geschäftsgrundlage auch annehmen wird, wenn es infolge staatlicher Entscheidungen zu einem Gaslieferengpass kommt. Die gemeinsame Vorstellung der Vertragsparteien, dass eine ausreichende Energieversorgung dauerhaft und ungestört besteht, dürfte auch hier die grundlegenden Rahmenbedingungen des Vertrags betreffen. Diese wird gestört, wenn die Gasversorgung zum Erliegen kommt.

3. Hypothetischer Wille
Anpassungsrechte gem. § 313 BGB bestehen nur, wenn die Parteien den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen hätten, sofern sie die Veränderung vorausgesehen hätten (sog. „hypothetisches Element“). Maßstab sind redliche Vertragspartner.

4. Unzumutbarkeit der Vertragsfortführung
§ 313 BGB setzt für eine Anpassung ferner voraus, dass dem betroffenen Vertragspartner unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann. Hierfür ist erforderlich, dass ein Festhalten an der vereinbarten Regelung für die benachteiligte Partei zu einem „nicht mehr tragbaren“ Ergebnis führt. Im Rahmen der Abwägung ist ausweislich des Wortlauts der Norm insbesondere zu berücksichtigen, wem welche vertraglichen und gesetzlichen Risiken zugewiesen sind. 

Nach § 313 BGB ist die „vertragliche oder gesetzliche Risikoverteilung“ in die Abwägung einzubeziehen. 

Dabei stellt die generelle Zuweisung des Beschaffungsrisikos/Risikos der Leistungserschwerung zum Auftragnehmer eine besondere Hürde dar. 

Der Auftraggeber trägt demgegenüber das Finanzierungs- und das Verwendungsrisiko. So wie der Auftraggeber grundsätzlich keinen gestiegenen Finanzierungszins durchreichen oder eine Anpassung bei vertragsgemäßer, aber hinterher als für ihn nutzlos erwiesener Leistung verlangen kann, gilt dies für den Auftragnehmer (grundsätzlich) bei erhöhten Anschaffungskosten.

Für eine Unzumutbarkeit muss die Kostenentwicklung daher schon gravierend sein und außerhalb der gewöhnlichen Preisschwankungen liegen. Starre Grenzen, ab wann dies der Fall ist, lehnt die Rechtsprechung hier ab. Es kommt stets auf den Einzelfall an. Bisher wurden z.B. 60 % Preissteigerungen als gravierend betrachtet. Eine von keiner Seite zu verantwortende Preissteigerung, die dagegen „lediglich den Gewinn“ des Auftragnehmers aufzehrt, wird dem Auftragnehmer meist zumutbar sein. Deshalb wird es in gewissen Grenzen dem Lieferunternehmen in der Kette rechtlich zumutbar sein, Ausweichmaterialien am Markt auch zu höheren Preisen einzukaufen und Preissteigerungen selbst zu kompensieren.

5. Rechtsfolge
Liegen die Voraussetzungen einer Störung der Geschäftsgrundlage vor, ist Rechtsfolge gem. § 313 Abs. 1 BGB vorrangig ein Anspruch auf Anpassung des Vertragsinhalts. 

Ist eine Anpassung des Vertrags dagegen nicht möglich oder einem Teil nicht zumutbar, kann von der benachteiligten Vertragspartei gegebenenfalls auch die Kündigung des Vertrags erklärt werden (§ 313 Abs.3 S. 2 BGB).

Daneben ist – gegebenenfalls parallel zu Schadensersatzansprüchen gem. § 280 Abs. 1 BGB – die Kündigung des Vertrags möglich, wenn sich ein Vertragspartner weigert, dem berechtigten Verlangen auf Vertragsanpassung zuzustimmen.

In der Regel wird es zu keiner vollständigen Preisanpassung zugunsten des Auftragnehmers kommen können, da das Risiko der Schwankung der Einkaufspreise grundsätzlich beim Auftragnehmer liegt und auch der Auftraggeber dies weder vorhersehen noch steuern kann. Eine Störung im Äquivalenzverhältnis aus Leistung und Gegenleistung vollständig auszugleichen, ist nicht Ziel der Anpassung.

6. Geltendmachung
Die Störung der Geschäftsgrundlage wird außergerichtlich durch Äußerung eines Anpassungsverlangens geltend gemacht. Hierbei ist der Partei, die eine Anpassung verlangt – regelmäßig also der Auftragnehmer –, zu raten, ein konkretes Anpassungsergebnis zu äußern und eine Frist zur Zustimmung zu setzen.

Der Anspruch auf Anpassung kann mit Klage auf die angepasste Leistung (analog § 315 Abs. 3 S. 2 BGB) oder als Klage auf Zustimmung zur Vertragsanpassung geltend gemacht werden.

Die Rechtsprechung nimmt eine Mitwirkungspflicht der Parteien zur Vertragsanpassung an, woraus sich bei Verstoß unter Umständen auch Schadensersatzansprüche ableiten lassen.

Hinweis:

Bei Vorliegen der vorgenannten engen Voraussetzungen kann den Vertragspartnern, die von Gaslieferengpässen betroffen sind, ein Anspruch auf Vertragsanpassung oder gar ein Kündigungsrecht zustehen. 

Unternehmen, gegenüber denen Vertragsanpassung infolge von Lieferengpässen verlangt wird, sollten ihren Vertragspartner um eine genaue Begründung und Mitteilung eines konkreten Anpassungsergebnisses bitten. Das Anpassungsverlangen sollte dann genausten geprüft werden.

Unternehmen, die eine Vertragsanpassung gegenüber eigenen Kunden geltend machen wollen, ist zu empfehlen, die Vertragsanpassung schriftlich und begründet mit einem konkreten Anpassungsergebnis zu verlangen, ggf. unter Bestimmung einer angemessenen Frist.

Schon im Hinblick die Kosten, die durch einen etwaigen Rechtsstreit über eine Vertragsanpassung entstehen können und die Zeit, die eine gerichtliche Klärung in Anspruch nimmt, ist zu empfehlen, die Anpassungsverhandlungen stets konsensual zu führen.

 

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Tim Schwarzburg                                                                             Moritz Riehl
Partner                                                                                                  Rechtsanwalt
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht
Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht
Mediator
Dozent an der Akademie Deutscher Genossenschaften (ADG)

RA Tim Schwarzburg

RA Moritz Riehl