- Weitere Stärkung der Arbeitnehmer im Urlaubsrecht -
Nachdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) in den zurückliegenden Jahren bereits mehrfach Grundsätze des deutschen Urlaubsrechts für unanwendbar erklärt und damit viel Unsicherheit bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern erzeugt hat, kommt nun die nächste Kehrtwende. In insgesamt drei Vorabentscheidungsverfahren hat das höchste EU-Gericht mit Urteilen vom 22.09.2022 (Rechtssachen C-120/21, C-518/20, C-727/20) die Position der Beschäftigten im Hinblick auf den Verfall des Urlaubsanspruchs erneut gestärkt. Entscheidend ist für die Frage des Verfalls nicht in Anspruch genommenen Urlaubs danach stets, ob der Arbeitgeber seinen Teil dazu beigetragen und beispielsweise darauf hingewiesen hat, dass der Urlaub bald verfällt. Konkret geht es um folgende Situationen, in denen der Anspruch auf Urlaub doch nicht verfällt:
Urlaub bei langanhaltender Erkrankung
Zwei der drei entschiedenen Fälle drehten sich um den Urlaubsanspruch bei Krankheit. Die Kläger machten geltend, dass sie einen Anspruch auf bezahlten Urlaub für das Jahr haben, in dem sie aus gesundheitlichen Gründen erwerbsgemindert beziehungsweise arbeitsunfähig waren. Bei Krankheit verfällt der Urlaubsanspruch nach der bisherigen, vom EuGH bislang auch akzeptierten deutschen Rechtsprechung (BAG, Urteil vom 07.08.2012, Az. 9 AZR 353/10) normalerweise nach 15 Monaten. Die Luxemburger Richter haben nun ergänzend entschieden, dass dies nur gilt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer rechtzeitig in die Lage versetzt habe, seinen Urlaub zu nehmen.
Hintergrund hierfür ist die Rechtsprechung des EuGH vom 06.11.2018 (Rs. C-684/16), dass der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub entgegen des Wortlauts des § 7 BUrlG am Ende des Kalenderjahres (§ 7 Abs. 3 S. 1 BUrlG) oder eines zulässigen Übertragungszeitraums (§ 7 Abs. 3 S. 2 und 4 BUrlG) nur dann erlischt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen, und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat. Den Arbeitgeber treffe die Initiativlast bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs. Die Befristung des Urlaubsanspruchs setzt grundsätzlich voraus, dass der Arbeitgeber konkret und in völliger Transparenz dafür Sorge trägt, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Dazu muss er den Arbeitnehmer – erforderlichenfalls förmlich – auffordern, seinen Urlaub zu nehmen, und ihm klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfällt, wenn er ihn nicht beantragt (im Anschluss an den EuGH: BAG, Urteil vom 19.02.2019, Az. 9 AZR 423/16). Zudem darf der Arbeitgeber, will er seinen Mitwirkungsobliegenheiten genügen, den Arbeitnehmer nicht in sonstiger Weise daran hindern, den Urlaub in Anspruch zu nehmen.
Offen war bisher, ob eine Verletzung dieser Mitwirkungsobliegenheiten durch den Arbeitgeber bei langandauernder Erkrankung des Arbeitnehmers auch einen Urlaubsverfall nach 15 Monaten hindert. Dies scheint der EuGH nun anerkannt zu haben. Einzelheiten können erst schriftlichen Begründung entnommen werden, die am 22.09.2022 noch nicht vorlag. Von der Argumentation der Entscheidungen ist auch abhängig, ob die erst jüngst vom BAG vorgenommene Differenzierung im Hinblick auf die Kausalität der Verletzung der Mitwirkungspflichten des Arbeitgebers aufrecht erhalten werden kann.
Mit Urteil vom 07.09.2021 (Az. 9 AZR 3/21) hatte das BAG entschieden: Ist der Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht nachgekommen, erlischt der gesetzliche Urlaubsanspruch dennoch 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahrs, wenn es dem Arbeitnehmer, allein weil er bis zu diesem Zeitpunkt durchgehend krankheitsbedingt arbeitsunfähig war, nicht möglich war, den Urlaub (vollständig) zu nehmen. In diesem Fall sei nicht die unterlassene Mitwirkung des Arbeitgebers, sondern die Arbeitsunfähigkeit kausal für die fehlende Möglichkeit des Arbeitnehmers, den Urlaubsanspruch zu realisieren.
Gesetzliche Verjährung keine Obergrenze für Urlaubsverfall
Im dritten Fall konnte die Klägerin ihren Urlaub nach eigener Aussage wegen des hohen Arbeitsaufwands nicht nehmen und forderte eine Abgeltung der Urlaubstage. Ihr Arbeitgeber argumentierte, dass der Anspruch verjährt sei wegen der üblichen zivilrechtlichen Verjährungsfrist von drei Jahren. Auch in diesen Fällen muss der Arbeitgeber dem EuGH zufolge aber dafür sorgen, dass der Arbeitnehmer seinen Urlaubsanspruch tatsächlich wahrnehmen kann. Dies bedeutet letztlich, dass Arbeitnehmer auch über die Regelverjährungsgrenze von 3 Jahren hinaus Urlaubsansprüche aus früheren Jahren nachfordern können.
Hat der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten nicht entsprochen, tritt der am 31.12. des Urlaubsjahres nicht gewährte oder verfallene Urlaub zu dem neuen Urlaubsanspruch hinzu, der am 01.01. des Folgejahres entsteht. Für diesen Anspruch gelten, wie für den neu entstandenen Urlaubsanspruch, die Regelungen des § 7 BUrlG. Der Arbeitgeber kann deshalb das uneingeschränkte Kumulieren von Urlaubsansprüchen aus mehreren Jahren dadurch vermeiden, dass er seine Mitwirkungsobliegenheiten für den Urlaub aus zurückliegenden Urlaubsjahren im aktuellen Urlaubsjahr nachholt. Nimmt der Arbeitnehmer in einem solchen Fall den kumulierten Urlaubsanspruch im laufenden Urlaubsjahr nicht wahr, obwohl es ihm möglich gewesen wäre, verfällt der Urlaub am Ende des Kalenderjahres bzw. eines (zulässigen) Übertragungszeitraums (grundlegend BAG, Urteil vom 19.02.2019, Az. 9 AZR 423/16).
Arbeitgebern ist vor dem Hintergrund dieser weiteren Stärkung der Urlaubsrecht der Arbeitnehmer noch dringlicher zu empfehlen, rechtzeitig im Urlaubsjahr deutlich auf den bestehenden Resturlaub und die gesetzliche Rechtsfolge des Verfalls zum Jahresende hinzuweisen. Dies sollte schriftlich erfolgen. Daneben muss die Urlaubsnahme auch tatsächlich vom Arbeitgeber ermöglicht und darf nicht erschwert werden. Unternehmen, die jetzt im September diese Mitwirkungspflicht noch nicht erfüllt haben, sollten nun schnell handeln. Gerne unterstützen wir bei der entsprechenden Kommunikation.
Unser Kompetenzteam Arbeit und Personal steht für Rückfragen gerne zur Verfügung und berät Sie auch zu weiteren Themen individuell.
Ihr Ansprechpartner:
Marcus Menster
Partner
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht