EuGH: Die praktische Umsetzung von Natura 2000 in Deutschland entspricht den europäischen Anforderungen

-Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 21.9.2023 (C-116/22)- 

Die Umsetzung der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (FFH-RL) in das nationale Recht war wiederholt Gegenstand von Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission gegen Deutschland und andere Mitgliedstaaten. In den Verfahren hatte der EuGH regelmäßig zu entscheiden, ob besondere Schutzgebiete in ausreichendem Maße von dem jeweiligen Mitgliedstaat als Beitrag zum Aufbau des kohärenten europäischen ökologischen Netzes besonderer Schutzgebiete (Natura 2000) gemeldet und ausgewiesen worden sind. Die Verfahren haben dazu geführt, dass das Schutzgebietsnetz Natura 2000 nach und nach aufgebaut und vervollständig wurde. Auch in der aktuellen Entscheidung hat sich der EuGH mit der praktischen Umsetzung von Natura 2000 in Deutschland auseinandergesetzt. KUNZ Rechtsanwalt Gundolf Schrenk, Leitender Ministerialrat a.D., stellt die Entscheidung und deren praktische Auswirkungen vor.
 

1. Fehlende Ausweisung von Schutzgebieten

In dem vorliegenden Vertragsverletzungsverfahren C-116/22 hat die Kommission erneut gerügt, Deutschland habe nicht alle gemeldeten und in die Liste der Kommission aufgenommenen Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung als besondere Schutzgebiete (FFH-Gebiete) ausgewiesen und keine Erhaltungsziele festgesetzt und verstoße somit gegen Art 4 Abs. 4 der FFH-RL.

Die Kommission rügt zudem, dass für 737 FFH-Gebiete die nötigen Erhaltungsmaßnahmen noch nicht festgelegt worden sind und sieht hierin eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 FFH-RL.

Die für Deutschland maßgeblichen drei Listen der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung aus 2008 enthalten insgesamt 4606 Gebiete. Hiervon waren 88 Gebiete in Niedersachsen noch nicht als FFH-Gebiete ausgewiesen und für weitere FFH-Gebiete gab es keine Erhaltungsmaßnahmen. Der Sachverhalt ist unstreitig, so dass der EuGH in seinem Urteil vom 21.9.2023 erwartungsgemäß eine Vertragsverletzung Deutschlands festgestellt hat. Den Vortrag Deutschlands, dass bis Ende März 2022 alle noch fehlenden Schutzgebietsausweisungen vorgenommen worden und inzwischen für weitere FFH-Gebiete Erhaltungsmaßnahmen erstellt worden sind, konnte der EuGH in seinem Urteil nicht berücksichtigen. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung des Vorliegens einer Vertragsverletzung ist nämlich der Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist, also der 13. Juni 2020. 

 

2. Festlegung von spezifischen und konkreten Erhaltungszielen

Mit ihrer weiteren Rüge eines allgemeinen und strukturellen Verstoßes gegen Art. 4 Abs. 4 und Art. 6 Abs. 1 FFH-RL wendet sich die Kommission erstmalig in Gänze gegen eine jahrelang entwickelte rechtliche und administrative Praxis der Umsetzung von Natura 2000 in Bund und Ländern. Entsprechende Verfahren führt die Kommission auch gegen eine Reihe anderer Mitgliedstaaten. Es besteht Übereinstimmung zwischen der Kommission und Deutschland, dass die Ausweisung als besonderes Schutzgebiet auch die Festlegung von spezifischen und konkreten Erhaltungszielen umfassen muss. Dies hat auch der EuGH bereits entschieden (EuGH, Urteil vom 17.12.2020, Kommission/Griechenland, C- 849/19). Streitig ist die Frage, was hierunter im Einzelnen zu verstehen ist. Das vorliegende Vertragsverletzungsverfahren gibt dem EuGH die Möglichkeit, seine Sicht zu den Erhaltungszielen in einem Urteil weiter zu präzisieren. Darin liegt die eigentliche Bedeutung dieses Vertragsverletzungsverfahrens.

 

Die Praxis der Umsetzung von Natura 2000 in Deutschland im Überblick

Die Länder wählen nach den fachlichen Kriterien des Anhang II der FFH-RL die Gebiete aus und stellen das Benehmen mit dem Bundesumweltministerium her. Der Bund meldet die Gebiete an die EU-Kommission, die dann eine Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung nach Art. 4 Abs. 2 FFH-RL erstellt und im Amtsblatt veröffentlicht. Die Ausweisung als FFH-Gebiet erfolgt durch die Länder (§ 32 BNatSchG).

Einige Länder haben die FFH-Gebiete (und Vogelschutzgebiete) durch das Landesnaturschutzgesetz oder hierauf gestützte Sammelverordnungen (z.B. Rheinland-Pfalz, Hessen, Bayern), andere In Form von Naturschutz- und Landschaftsschutzgebieten (z.B. Niedersachsen, Saarland) durch Rechtsverordnung ausgewiesen. In jedem Falle erfolgt eine genaue Schutzgebietsabgrenzung, die vorhandenen Lebensraumtypen nach Anhang I und Arten nach Anhang II der FFH-RL werden als Schutzgüter in die gesetzliche Regelung aufgenommen und es werden allgemeine Erhaltungsziele für jedes Schutzgebiet bestimmt. Auf einer weiteren Stufe werden dann von den Naturschutzbehörden Bewirtschaftungspläne für jedes ausgewiesene Schutzgebiet erarbeitet, in denen der Zustand des Gebietes und der Lebensraumtypen und Arten nach einem abgestimmten Bewertungsschema erfasst und hieraus detailliertere, meist qualitative Erhaltungsziele für die jeweiligen Lebensraumtypen und die Habitate der Arten und Lebensräume sowie die hierfür erforderlichen Erhaltungsmaßnahmen abgeleitet werden. Die konkrete Umsetzung von Maßnahmen erfolgt dann z.B. im Wege des Vertragsnaturschutzes.

Ein allgemeines Verschlechterungsverbot sowie die Prüfung von Projekten und Plänen auf ihre Verträglichkeit mit den Erhaltungszielen ist bundesgesetzlich einheitlich geregelt (§§ 33 bis 36 BNatSchG). Diese Vorschriften gelten auch für gemeldete, aber noch nicht ausgewiesene Schutzgebiete.

 

Auffassung der Kommission

Die Kommission vertritt die Auffassung, Deutschland verfolge bei der Festlegung der Erhaltungsziele und -maßnahmen eine allgemeine und strukturelle Praxis, die den Anforderungen von Art. 4 Abs. 4 und Art. 6 Abs. 1 der FFH-RL zuwiderlaufe.  Sie macht geltend, die Erhaltungsziele müssten stets quantitativ und messbar sein, um zu erkennen, welchen Beitrag ein FFH-Gebiet für einen günstigen Erhaltungszustand von Lebensraumtypen und Arten auf nationaler Ebene leiste. Sie verweist in diesem Zusammenhang zudem auf die Bedeutung der Erhaltungsziele für die Durchführung von Verträglichkeitsprüfungen. Sie trägt weiter vor, dass Deutschland wegen fehlender quantifizierter Erhaltungsziele bisher bei rund 80% der Lebensraumtypen und Arten keinen günstigen Erhaltungszustand erreicht habe. Die Erhaltungsziele müssten des Weiteren zwischen der Wiederherstellung und der Erhaltung der Schutzgüter unterscheiden und auch unmittelbar gegenüber Dritten rechtsverbindlich sein. Die von Deutschland in Bewirtschaftungsplänen festgelegten qualitativen Erhaltungsziele seien demgegenüber unzureichend. Die Kommission versucht die aus ihrer Sicht unrechtmäßige Praxis anhand von Beispielen aus den Ländern zu belegen.

 

Entscheidung des EuGH

Der EuGH hat zunächst erneut festgestellt, dass zur Ausweisung von besonderen Schutzgebieten durch die Mitgliedstaaten auch die Festlegung von spezifischen und konkreten Erhaltungsziele gehört. Diese müssen auf einer wissenschaftlichen Prüfung der Situation der Arten und ihrer Lebensräume in einem bestimmten Schutzgebiet beruhen. Das kann im Einzelfall eine quantitative Zielsetzung erfordern, in anderen Fällen kommt es vorrangig auf den ökologischen Zustand von Flächen als Lebensraum für geschützte Arten an. Die Auffassung der Kommission werde weder vom Wortlaut der FFH-RL noch deren systematischen und teleologischen Auslegung gestützt. Sie stoße zudem wegen fehlender Flexibilität auf praktische Schwierigkeiten. 

Aufgrund der Vielzahl der Schutzgebiete und der dort vorzufindenden Arten und Lebensräume, der zwischen ihnen bestehenden Wechselwirkungen und der Dynamik in der Natur, lehnt der EuGH deshalb ebenso wie bereits die Generalanwältin in ihren Schlussanträgen eine allgemeine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Festlegung von quantitativen Erhaltungszielen ab. Insofern hat die Kommission auch nicht hinreichend dargelegt, dass die von ihr aufgeführten Beispiele, mit der sie die Notwendigkeit von quantitativen Zielsetzungen darzulegen versucht, für alle FFH-Gebiete in Deutschland repräsentativ ist.

In Übereinstimmung mit den Schlussanträgen der Generalanwältin hält der EuGH eine Unterscheidung zwischen Erhaltung und Wiederherstellung nicht auf der Zielebene, sondern bei der Festlegung konkreter Erhaltungsmaßnahmen für angezeigt.

Schließlich sieht der EuGH keine Anhaltspunkte in der FFH-RL für eine rechtlich verbindliche Wirkung von Erhaltungszielen gegenüber Dritten. Erhaltungsziele sind ihrer Natur nach darauf angelegt, durch konkrete Maßnahmen umgesetzt zu werden. Es ist deshalb ausreichend, wenn diese bei Bedarf gegenüber Dritten verbindlich gemacht werden können, wie dies in Deutschland z.B. im Wege des Vertragsnaturschutzes geschieht. Außerdem entfalten die Erhaltungsziele mittelbare Wirkung im Rahmen der Verträglichkeitsprüfung.

Nach alledem hat sich der EuGH der Auffassung Deutschlands angeschlossen und die Rüge der EU-Kommission in Übereinstimmung mit den Schlussanträgen der Generalanwältin in diesem Punkt zurückgewiesen.

 

3. Gewinner ist der Naturschutz

Die Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens hat sicherlich die rechtliche Ausweisung der restlichen 88 Gebiete in Niedersachsen sowie die Arbeit der Länder an der Fertigstellung von Bewirtschaftungsplänen beschleunigt. Damit ist der Aufbau des Schutzgebietsnetzes Natura 2000 in Deutschland auch formal abgeschlossen.

Die eigentliche Bedeutung kommt der Entscheidung des EuGH jedoch im Hinblick auf die Bewertung der praktischen Umsetzung von Natura 2000 in Deutschland zu. Hätte sich die Kommission durchgesetzt, wären für alle 4606 Gebiete mit gemeinschaftlicher Bedeutung eine formale Neubestimmung von Erhaltungszielen und Erhaltungsmaßnahmen durch eine zeitaufwendige Änderung der jeweiligen landesgesetzlichen Regelungen und der für jedes Gebiet erstellten Bewirtschaftungspläne erforderlich geworden. Eine Differenzierung der Erhaltungsziele zwischen Erhaltung und Wiederherstellung hätte je nach der tatsächlichen Entwicklung der Lebensraumtypen und Arten in einem FFH-Gebiet eine ständige Anpassung der gesetzlichen Grundlagen notwendig gemacht. In die Prozedur hätten dann konsequenterweise zusätzlich die Vogelschutzgebiete einbezogen werden müssen. Dies hätte zu einem erheblichen bürokratischen Mehraufwand aber nicht zu einem besseren Schutz der biologischen Vielfalt geführt. Der EuGH hat dargelegt, dass nicht starre, sondern nur flexible Regelungen dem dynamischen Naturgeschehen gerecht werden können. Die FFH-RL gibt die Gewährleistung eines günstigen Erhaltungszustands der natürlichen Lebensraumtypen und der Habitate der Arten in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet vor. Die Wahl der geeigneten Mittel zur Erreichung eines günstigen Erhaltungszustandes in jedem FFH-Gebiet treffen die Mitgliedstaaten. Vor diesem Hintergrund ist die Praxis in Deutschland nicht zu beanstanden.

 

Ihr Ansprechpartner:
Gundolf Schrenk
Rechtsanwalt
Leitender Ministerialrat a.D.