Der EuGH hat sich in der Rechtssache C-721/20 mit der Überprüfung der Entgelte für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur und zur Aufteilung der Zuständigkeit zwischen der Regulierungsstelle und den nationalen Gerichten – insbesondere der Zivilgerichte – in Form eines Vorlageverfahrens befasst und am 27.10.2022 wie folgt entscheiden:
„Art. 30 der Richtlinie 2001/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn und die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur in der durch die Richtlinie 2007/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 geänderten Fassung ist wie folgt auszulegen:
Es steht dem nicht entgegen, dass die nationalen Gerichte bei der Entscheidung über eine Klage auf Rückzahlung der Entgelte für die Nutzung von Infrastruktur gleichzeitig Art. 102 AEUV und das einzelstaatliche Wettbewerbsrecht anwenden, sofern die zuständige Regulierungsstelle vorher über die Rechtmäßigkeit der betreffenden Entgelte entschieden hat. Insoweit sind die nationalen Gerichte zur loyalen Zusammenarbeit verpflichtet; sie müssen bei ihrer Würdigung die Entscheidungen der zuständigen Regulierungsstelle berücksichtigen und sich bei der Begründung ihrer eigenen Entscheidungen mit dem gesamten Inhalt der ihnen vorgelegten Akten auseinandersetzen.“
1.
Der Entscheidung des Verfahrens lag im Wesentlichen der folgende Sachverhalt zugrunde:
Das Ausgangsverfahren betrifft die Klage eines Eisenbahnverkehrsunternehmens (EVUs) gegen eine Bahngesellschaft auf Rückzahlung von nach Auffassung der Klägerin zu viel gezahlten Entgelten für den Zugang zu Personenbahnhöfen.
Das mit der Sache befasste KG wollte vom EuGH wissen, ob die Richtlinie 2001/14 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn und die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur (hier Art. 30) dem entgegensteht, dass die nationalen Gerichte über eine gleichzeitig auf Art. 102 AEUV (Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung) und das einzelstaatliche Wettbewerbsrecht gestützte Klage auf Rückzahlung der Entgelte für die Nutzung von Infrastruktur unabhängig von der Überwachung durch die zuständige Regulierungsstelle entscheiden.
Nach Art. 30 der Richtlinie haben die Mitgliedstaaten eine Regulierungsstelle einzurichten, bei der Antragsteller insbesondere Entscheidungen der Infrastrukturbetreiber über die Entgeltregelung oder die Höhe oder Struktur der Wegeentgelte, die der Antragsteller zu zahlen hat oder hätte, anfechten können.
2.
Der EuGH hat sich für einen „Mittelweg“ entschieden, indem er einerseits die Entscheidung nationaler Gerichte über eine Klage auf Rückzahlung der Entgelte für die Nutzung von Infrastruktur und die Anwendung des einzelstaatlichen Wettbewerbsrechts unabhängig von der Entscheidung der Regulierungsbehörde zulässt – und damit divergierende Entscheidungen in Kauf nimmt - , andererseits aber zur Voraussetzung macht, dass die nationale Regulierungsbehörde zuvor mit der Frage der Rechtmäßigkeit dieser Entgelte befasst war und auf das Erfordernis der loyalen Zusammenarbeit zwischen der Regulierungsstelle und den nationalen Gerichten verweist.
Im Einzelnen:
a)
Art. 30 der Richtlinie 2001/14 steht dem danach nicht entgegen, dass die nationalen Gerichte bei der Entscheidung über eine Klage auf Rückzahlung der Entgelte für die Nutzung von Infrastruktur gleichzeitig Art. 102 AEUV und das einzelstaatliche Wettbewerbsrecht anwenden, sofern die zuständige Regulierungsstelle vorher über die Rechtmäßigkeit der betreffenden Entgelte entschieden hat. Insoweit sind die nationalen Gerichte zur loyalen Zusammenarbeit verpflichtet; sie müssen bei ihrer Würdigung die Entscheidungen der zuständigen Regulierungsstelle berücksichtigen und sich bei der Begründung ihrer eigenen Entscheidungen mit dem gesamten Inhalt der ihnen vorgelegten Akten auseinandersetzen.
b)
Zwar ist die Überprüfung der Entgelte für die Nutzung von Infrastruktur nach Maßgabe der zivilrechtlichen Vorschriften eines Mitgliedstaats, die nichts mit den Vorschriften der Richtlinie zu tun haben, bereits ihrem Wesen nach nicht mit den technischen Erfordernissen des Eisenbahnsektors, den Zielen der Richtlinie und den Aufgaben der Regulierungsstelle vereinbar. Dies gilt aber nicht für die Anfechtung der Höhe der Entgelte auf der Grundlage von Art. 102 AEUV.
Damit die volle Wirksamkeit von Art. 102 AEUV gewahrt und insbesondere gewährleistet wird, dass die Antragsteller wirksam gegen Schäden geschützt sind, die durch einen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht entstehen, sind die zuständigen nationalen Gerichte durch die ausschließliche Zuständigkeit, die der Regulierungsstelle durch Art. 30 der Richtlinie 2001/14 zuerkannt wird, nicht daran gehindert, über auf Art. 102 AEUV gestützte Klagen auf Rückzahlung zu viel gezahlter Entgelte für die Nutzung von Infrastruktur zu entscheiden.
c)
Ein Eisenbahnunternehmen, das die Rückzahlung zu viel gezahlter Entgelte für die Nutzung von Infrastruktur auf der Grundlage von Art. 102 AEUV begehrt, muss jedoch die nationale Regulierungsstelle mit der Frage der Rechtmäßigkeit dieser Entgelte befassen, bevor es die zuständigen nationalen Gerichte anruft. Auch wenn die nationalen Gerichte, die über solche Klagen zu entscheiden haben, nicht an die Entscheidungen der nationalen Regulierungsstellen gebunden sind, sind sie jedoch gehalten, diese zu berücksichtigen und sich bei der Begründung ihrer eigenen Entscheidungen mit den Feststellungen zum Sachverhalt und der rechtlichen Würdigung auseinanderzusetzen, die die nationalen Regulierungsstellen in Bezug auf den Rechtsstreit, über den sie zu entscheiden hatten, insbesondere im Hinblick auf die Anwendung der einschlägigen sektorspezifischen Regelung auf den betreffenden Fall, vorgenommen haben.
d)
Damit die volle Wirksamkeit von Art. 102 AEUV gewährleistet wird, sind die nationalen Gerichte, die über eine auf diese Bestimmung gestützte Klage auf Rückzahlung zu viel gezahlter Entgelte für die Nutzung von Infrastruktur zu entscheiden haben, nicht verpflichtet, den Ausgang der Gerichtsverfahren abzuwarten, die gegen die Entscheidungen der zuständigen Regulierungsstelle eingeleitet wurden.
Verfasserin: Dr. Hanna Deutgen
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Michael Frohn Dr. Hanna Deutgen
Partner Rechtsanwältin
Rechtsanwalt